Fastenmonat Ramadan

Alte und neue Herausforderung für chronisch Erkrankte während der Corona-Pandemie

 

Berlin (27. April 2020) – Für die etwa 4,7 Millionen in Deutschland lebenden Muslime hat der Ramadan begonnen. Obwohl Menschen mit chronischen Erkrankungen wie einem Diabetes mellitus von der Pflicht zu fasten befreit sind, machen trotzdem viele von dieser Ausnahme keinen Gebrauch. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) rät Menschen mit Diabetes jedoch, nur unter ärztlicher Begleitung zu fasten – Risikopatienten sollten darauf besser ganz verzichten. Zudem geht während der Corona-Pandemie ein entgleister Diabetesstoffwechsel mit einem erhöhten Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf einher.

Etwa 100.000 Muslime in Deutschland haben einen diagnostizierten Diabetes mellitus Typ 2. Viele von ihnen möchten den Ramadan ebenso begehen wie ihre stoffwechselgesunden Familienmitglieder. „Der Ramadan ist nicht nur ein religiöses Dogma“, erklärt Dr. med. Mahmoud Sultan von der AG „Diabetes und Migranten“ der DDG. „Der Fastenmonat geht auch mit sozio-kulturelle Aspekten, wie das gemeinsame Fastenbrechen am Abend, einher. „Wer daran nicht teilnimmt, kann sich schnell ausgeschlossen fühlen.“ Daher bestehen viele Diabetespatientinnen und -patienten trotz ihrer chronischen Erkrankung auf die Einhaltung der religiösen Pflicht, obwohl beispielsweise Schwangere, Alte und Menschen, die dauerhaft schwere körperliche Arbeit verrichten, befreit wären. Eine Studie ergab, dass fast 80 Prozent aller Muslime mit einem Diabetes Typ 2 für mindestens 15 Tage fasten.1

„Es ist daher besonders wichtig, diese Menschen in ihrer Diabetestherapie kulturell sensibel zu betreuen und ihnen das Fasten zu ermöglichen, soweit es medizinisch möglich ist“, erklärt Diabetes- und Diätassistentin VDD Johanna Karapinar aus Osnabrück. Insbesondere während der jetzigen Corona-Pandemie gebe der Ramadan der Glaubensgemeinschaft noch mehr Zusammenhalt und stärke die durch das „Social Distancing“ geschwächte individuelle Psyche. „Wir beobachten derzeit in der Praxis, dass das Bedürfnis der Patienten nach Fasten besonders hoch ist – es gibt ihnen eine Aufgabe.“ Zudem könne sich die Fastenzeit positiv auf die körperliche Gesundheit auswirken. „Viele haben in der Zeit der heimischen Isolation auch aus Langeweile gekocht und gegessen. Eine durch das Fasten reduzierte Kalorienaufnahme könne helfen, die Therapieziele bei Diabetes und Übergewicht besser zu verfolgen. „Dabei empfehlen wir Patienten, beim abendlichen Fastenbrechen darauf zu achten, möglichst wenig Kohlehydrate zu sich zu nehmen.“ Brot, Kartoffeln und Reis sowie süße Baklava oder gesüßte Getränke sollten in geringen Mengen konsumiert werden. So wäre auch eine medikamentöse Anpassung einfacher.

Denn der stark veränderte Tag-Nacht-Rhythmus, den die Ramadan-Fastenden durchleben, stellt die Diabetestherapie vor große Herausforderungen: So drohen über den entbehrungsreichen Tag Unterzuckerungen (Hypoglykämien) und beim ausgiebigen abendlichen Mahl Überzuckerungen (Hyperglykämien). Das Risiko für Hypoglykämien ist in dieser Zeit um das Siebenfache und für schwere Unterzuckerungen mit Krankenhausaufenthalt um das Fünffache erhöht. „Um diese Gefahr therapeutisch abzufedern, müssen die Medikamente angepasst und die Therapieumstellung gut geplant werden“, führt Sultan, niedergelassener Diabetologe aus Berlin, aus. Antidiabetika wie Metformin, DPP-4-Inhibitoren, SGLT-2-Inhibitoren oder GLP-1-Analoga können meist unverändert weiter eingenommen werden. Hier ist nur eine entsprechende Anpassung bei Veränderungen der Kalorienzufuhr beziehungsweise schwerer körperlicher Arbeit zu beachten.

Sulfonylharnstoffe hingegen bergen ein erhöhtes Risiko für Hypoglykämien und somit für kardiovaskuläre Komplikationen. Diese sollten während des Ramadans nur vor dem Fastenbrechen genommen werden. Die Insulintherapie können Patienten individuell nach Kalorienaufnahme anpassen. Insbesondere ist die morgendliche Dosierung von Insulin und anderen Medikamenten, die eine gefährliche Unterzuckerung über den Tag auslösen können, stets zu überprüfen. Die beiden Experten raten, das Fasten umgehend zu unterbrechen, sobald der Blutzucker auf Werte unter 70 mg/dl abfällt beziehungsweise auf über 300 mg/dl ansteigt, Symptome der Unterzuckerung, Dehydrierung oder akute Krankheitssymptome auftreten.* „Eine genaue Beobachtung des Blutzuckerspiegels ist nun in der aktuellen Corona-Pandemie wichtiger denn je“, betont Sultan. „Im Falle einer Erkrankung mit COVID-19 könnte ein durch Fasten beeinträchtigter Diabetesstoffwechsel mit einem schwereren Infektionsverlauf einhergehen.“

Den meisten Patienten gelänge die Umstellung ohne größere Probleme, berichtet Sultan. Frauen mit Schwangerschaftsdiabetes und Diabetespatienten mit einer Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung oder fehlender Bereitschaft, den Blutzucker regelmäßig zu prüfen, rät er hingegen, mit täglichen Essens- oder Geldspenden andere Gläubige zu unterstützen und so ihre religiösen Pflichten zu erfüllen. Denn diesen Patienten würden in der Fastenzeit vermehrt gefährliche Unter- oder Überzuckerungen drohen. Auch Menschen mit Vorerkrankungen – beispielsweise an Herz, Kreislauf und Nieren – sollten vom Fasten absehen.

Mit der umfassenden Leitlinie „Diabetes and Ramadan“ stellt die International Diabetes Federation (IDF) medizinischem Personal praktische Handlungsempfehlungen und Hintergrundinformationen bereit, um ihre Patientinnen und Patienten in der Fastenzeit sicher zu betreuen.2 Auf der Homepage von diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe können sich Betroffene ausführlich zum Fasten mit Diabetes informieren: https://www.diabetesde.org/ramadan-fasten


Dann besteht ein sehr hohes/hohes Risiko für Komplikationen durch das Fasten

  • Schwere Hypoglykämien innerhalb der zurückliegenden drei Monate vor dem Ramadan
  • Aktuelle Erkrankungen
  • Schwangerschaft
  • Nierenprobleme/Dialyse
  • Typ-1-Diabetes
  • Besonders intensive körperliche Arbeit
  • Hohes Alter mit schlechtem Gesundheitszustand

 

Anmerkung

*Symptome der Unterzuckerung (Hypoglykämie) sind: Zittern, Schwitzen/Frieren, Empfindung von Herzrasen, Hunger, veränderter Geisteszustand, Verwirrung, Kopfschmerzen.
Symptome der Überzuckerung (Hyperglykämie) sind: Durst, Hunger, häufiges Wasserlassen, Müdigkeit, Verwirrtheit, Übelkeit/Erbrechen, Bauchschmerzen.

 

Literatur

  1. Salti I, Bénard E, Detournay B, Bianchi-Biscay M, Le Brigand C, Voinet C, Jabbar A; EPIDIAR study group, A population-based study of diabetes and its characteristics during the fasting month of Ramadan in 13 countries: results of the epidemiology of diabetes and Ramadan 1422/2001 (EPIDIAR) study, Diabetes Care. 2004 Oct;27(10):2306-11. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/15451892
  2. IDF-Guidelines zu Diabetes und Fasten: https://idf.org/e-library/guidelines/87-diabetes-and-ramadan-practical-25

 


Quelle: Deutsche Diabetes Gesellschaft, 27.04.2020 (tB).

Schlagwörter: ,

MEDICAL NEWS

IU School of Medicine researchers develop blood test for anxiety
COVID-19 pandemic increased rates and severity of depression, whether people…
COVID-19: Bacterial co-infection is a major risk factor for death,…
Regenstrief-led study shows enhanced spiritual care improves well-being of ICU…
Hidden bacteria presents a substantial risk of antimicrobial resistance in…

SCHMERZ PAINCARE

Hydromorphon Aristo® long ist das führende Präferenzpräparat bei Tumorschmerz
Sorgen und Versorgen – Schmerzmedizin konkret: „Sorge als identitätsstiftendes Element…
Problem Schmerzmittelkonsum
Post-Covid und Muskelschmerz
Kopfschmerz bei Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln

DIABETES

Wie das Dexom G7 abstrakte Zahlen mit Farben greifbar macht…
Diabetes mellitus: eine der großen Volkskrankheiten im Blickpunkt der Schmerzmedizin
Suliqua®: Einfacher hin zu einer guten glykämischen Kontrolle
Menschen mit Diabetes während der Corona-Pandemie unterversorgt? Studie zeigt auffällige…
Suliqua® zur Therapieoptimierung bei unzureichender BOT

ERNÄHRUNG

Positiver Effekt der grünen Mittelmeerdiät auf die Aorta
Natriumaufnahme und Herz-Kreislaufrisiko
Tierwohl-Fleisch aus Deutschland nur mäßig attraktiv in anderen Ländern
Diät: Gehirn verstärkt Signal an Hungersynapsen
Süßigkeiten verändern unser Gehirn

ONKOLOGIE

Strahlentherapie ist oft ebenso effizient wie die OP: Neues vom…
Zanubrutinib bei chronischer lymphatischer Leukämie: Zusatznutzen für bestimmte Betroffene
Eileiter-Entfernung als Vorbeugung gegen Eierstockkrebs akzeptiert
Antibiotika als Störfaktor bei CAR-T-Zell-Therapie
Bauchspeicheldrüsenkrebs: Spezielle Diät kann Erfolg der Chemotherapie beeinflussen

MULTIPLE SKLEROSE

Multiple Sklerose: Aktuelle Immunmodulatoren im Vergleich
Neuer Biomarker für Verlauf von Multipler Sklerose
Multiple Sklerose: Analysen aus Münster erhärten Verdacht gegen das Epstein-Barr-Virus
Aktuelle Daten zu Novartis Ofatumumab und Siponimod bestätigen Vorteil des…
Multiple Sklerose durch das Epstein-Barr-Virus – kommt die MS-Impfung?

PARKINSON

Meilenstein in der Parkinson-Forschung: Neuer Alpha-Synuclein-Test entdeckt die Nervenerkrankung vor…
Neue Erkenntnisse für die Parkinson-Therapie
Cochrane Review: Bewegung hilft, die Schwere von Bewegungssymptomen bei Parkinson…
Technische Innovationen für eine maßgeschneiderte Parkinson-Diagnostik und Therapie
Biomarker und Gene: neue Chancen und Herausforderungen für die Parkinson-Diagnose…