Neurofilamente als Diagnose-
und Prognosemarker für Multiple Sklerose

München (29. Juni 2020) – Bei Multipler Sklerose (MS) erlauben klinische Kriterien oft keine zuverlässige Einschätzung der Prognose. Neueste technische Entwicklungen ermöglichen nun in spezialisierten Zentren die Messung von Neurofilament Leichtketten Proteinen (NFL). NFL ist ein Protein des Stützgerüsts von Neuronen, das bei Nervenzelluntergang freigesetzt wird und in kleinsten Konzentrationen im Blut gemessen werden kann. Forscher der Klinik und Poliklinik für Neurologie der Universitätsmedizin Mainz haben das Potenzial dieses neuen Biomarkers innerhalb einer großen MS-Kohortenstudie des Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) bei Patienten mit früher MS untersucht. In dieser bisher in Deutschland einzigartigen prospektiven Kohorte konnten sie den Nutzen von NFL für Diagnostik, Prognose und Therapieentscheidung belegen. Nachzulesen sind diese Erkenntnisse in der renommierten Fachzeitschrift „EBioMedicine“.

Die Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose ist eine der häufigsten Erkrankungen junger Erwachsener in den Industrienationen. Bei dieser greift das eigene Immunsystem das zentrale Nervensystem (ZNS) an: Immunzellen (T-Zellen) wandern über die Blut-Hirn-Schranke – die physiologische Barriere zwischen Blutkreislauf und ZNS – ins Gehirn und schädigen dort die schützende Hülle (Myelinschicht) der Nervenfasern.

Dadurch kommt es zu einem Abbau bzw. Funktionsverlust von Nervenzellen und in der Folge zu neurologischen, mit Behinderung einhergehenden Symptomen.

Bisher werden in der Praxis unter anderem das klinische Bild sowie Magnetresonanztomographie-(MRT)-Aufnahmen vom Gehirn und Rückenmark zur Diagnose, Risiko-Stratifizierung und Evaluation des Therapie-Ansprechens genutzt. Viel wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfährt aktuell jedoch ein bestimmtes Eiweiß mit dem Namen Neurofilament light chain (NFL), welches in Nervenzellen gebildet wird und bei einer Zellschädigung in die Umgebung freigesetzt wird.

„Dank technischer Weiterentwicklung und neuer hochsensitiver Methoden (single molecule array; Simoa) in spezialisierten Zentren ist es heute möglich, nicht nur die relativ hohe NFL-Konzentration im Nervenwasser, sondern auch die sehr viel geringeren NFL-Level im Blut zu bestimmen. Dies ermöglicht nun die serielle NFL-Bestimmung in individuellen Patienten nach standardmäßiger Blutentnahme“, so Prof. Dr. Stefan Bittner, Leiter der Sektion Neuroimmunologie an der Universitätsmedizin Mainz und Erstautor der Studie.

Den Nutzen von NFL als Biomarker für diagnostische Präzision, Prognose des Krankheitsverlaufs und Therapieentscheidung haben die Wissenschaftler um Prof. Dr. Stefan Bittner, Steffen Falk und Univ.-Prof. Dr. Frauke Zipp von der Klinik und Poliklinik für Neurologie der Universitätsmedizin Mainz in Zusammenarbeit mit weiteren großen deutschen Experten-Zentren vom Kompetenznetz Multiple Sklerose in einer prospektiven Studie mit über 800 Betroffenen untersucht. Besonderheiten dieser Kohorte waren der Einschluss der Probanden direkt nach Diagnosestellung noch vor Initiierung einer spezifischen Therapie sowie die systematische Rekrutierung an verschiedenen Standpunkten in Deutschland mit standardisierten Untersuchungen, Blutabnahmen und MRT-Protokollen. In dieser Kohorte konnten die Mainzer Neurologen nun zeigen, dass Multiple Sklerose-Patienten mit neuronaler Schädigung tatsächlich durch die neuen Diagnosekriterien früher erfasst werden. Dies führt zu einer verbesserten Behandlungsmöglichkeit, da bestimmte Medikamente in Deutschland erst bei definitiver MS-Diagnose zugelassen sind.

Darüber hinaus führte die Hinzunahme von NFL zu bereits implementierten diagnostischen Parametern zu einer verbesserten diagnostischen Genauigkeit. Bei der gemeinsamen Therapieentscheidung durch Arzt und Patient waren weder den behandelnden Ärzten noch Patienten der aktuelle NFL-Wert bekannt. Nichtsdestotrotz ergaben die späteren Analysen, dass die Patienten, welche auf stärkere Therapieoptionen eskaliert worden waren, in der Tat besonders hohe NFL-Werte aufwiesen.

Patienten, die sich bei der Folgeuntersuchung nach zwei Jahren in der höchsten Therapiestufe befanden, zeigten bereits bei Studieneinschluss die höchsten NFL-Konzentrationen im Blut. Dies unterstreicht das Potenzial von NFL als Entscheidungshilfe bei der Therapiewahl.

Zusammenfassend unterstützen diese neuen Erkenntnisse eine mögliche Hinzunahme des Biomarkers NFL zum zukünftigen Untersuchungsstandard bei Diagnosestellung und im weiteren Krankheitsverlauf.

Die Direktorin der Klinik und Poliklinik für Neurologie und Vorstandsmitglied des KKNMS, Univ.-Prof. Dr. Frauke Zipp, betont: „Bisher wird NFL in der Praxis nicht standardmäßig bestimmt und nicht jede Klinik hat die notwendige Technik, um eine Bestimmung durchzuführen. Unsere Ergebnisse unterstützen weitere Forschungsbemühungen bezüglich dieses vielversprechenden Biomarkers für eine personalisierte Medizin, d. h. genaue Abstimmung auf den individuellen Verlauf der Erkrankung.“

 


Quelle: Krankheitsbezogenes Kompetenznetz Multiple Sklerose, 29.06.2020 (tB).

Schlagwörter: ,

MEDICAL NEWS

IU School of Medicine researchers develop blood test for anxiety
COVID-19 pandemic increased rates and severity of depression, whether people…
COVID-19: Bacterial co-infection is a major risk factor for death,…
Regenstrief-led study shows enhanced spiritual care improves well-being of ICU…
Hidden bacteria presents a substantial risk of antimicrobial resistance in…

SCHMERZ PAINCARE

Hydromorphon Aristo® long ist das führende Präferenzpräparat bei Tumorschmerz
Sorgen und Versorgen – Schmerzmedizin konkret: „Sorge als identitätsstiftendes Element…
Problem Schmerzmittelkonsum
Post-Covid und Muskelschmerz
Kopfschmerz bei Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln

DIABETES

Wie das Dexom G7 abstrakte Zahlen mit Farben greifbar macht…
Diabetes mellitus: eine der großen Volkskrankheiten im Blickpunkt der Schmerzmedizin
Suliqua®: Einfacher hin zu einer guten glykämischen Kontrolle
Menschen mit Diabetes während der Corona-Pandemie unterversorgt? Studie zeigt auffällige…
Suliqua® zur Therapieoptimierung bei unzureichender BOT

ERNÄHRUNG

Positiver Effekt der grünen Mittelmeerdiät auf die Aorta
Natriumaufnahme und Herz-Kreislaufrisiko
Tierwohl-Fleisch aus Deutschland nur mäßig attraktiv in anderen Ländern
Diät: Gehirn verstärkt Signal an Hungersynapsen
Süßigkeiten verändern unser Gehirn

ONKOLOGIE

Strahlentherapie ist oft ebenso effizient wie die OP: Neues vom…
Zanubrutinib bei chronischer lymphatischer Leukämie: Zusatznutzen für bestimmte Betroffene
Eileiter-Entfernung als Vorbeugung gegen Eierstockkrebs akzeptiert
Antibiotika als Störfaktor bei CAR-T-Zell-Therapie
Bauchspeicheldrüsenkrebs: Spezielle Diät kann Erfolg der Chemotherapie beeinflussen

MULTIPLE SKLEROSE

Multiple Sklerose: Aktuelle Immunmodulatoren im Vergleich
Neuer Biomarker für Verlauf von Multipler Sklerose
Multiple Sklerose: Analysen aus Münster erhärten Verdacht gegen das Epstein-Barr-Virus
Aktuelle Daten zu Novartis Ofatumumab und Siponimod bestätigen Vorteil des…
Multiple Sklerose durch das Epstein-Barr-Virus – kommt die MS-Impfung?

PARKINSON

Meilenstein in der Parkinson-Forschung: Neuer Alpha-Synuclein-Test entdeckt die Nervenerkrankung vor…
Neue Erkenntnisse für die Parkinson-Therapie
Cochrane Review: Bewegung hilft, die Schwere von Bewegungssymptomen bei Parkinson…
Technische Innovationen für eine maßgeschneiderte Parkinson-Diagnostik und Therapie
Biomarker und Gene: neue Chancen und Herausforderungen für die Parkinson-Diagnose…