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Migräneprophylaxe in der Allgemein- und Facharztpraxis: Interdisziplinäre Zusammenarbeit für langfristigen Behandlungserfolg

Interview mit Dr. Peter Storch, Facharzt für Neurologie

 

Dr. Peter Storch ist Facharzt für Neurologie sowie zertifizierter DMKG Kopf- und Gesichtsschmerzexperte. Er leitet das Mitteldeutsche Kopfschmerzzentrum am Universitätsklinikum Jena. Dort werden jährlich 3.000 Patienten mit verschiedenen Kopfschmerzindikationen behandelt.

Die interdisziplinäre und sektorenübergreifende Versorgung im Kopfschmerzzentrum geschieht in enger Abstimmung mit einem Netzwerk verschiedener Kooperationspartner (niedergelassene Neurologen, Schmerztherapeuten und Allgemeinmediziner) aus Thüringen und den umliegenden Bundesländern.

 

Welche Informationen über den Patienten seitens des Allgemeinmediziners sind für Sie besonders wichtig?

Für uns als Neurologen mit dem Schwerpunkt Kopfschmerz sind zunächst anamnestische Informationen zu der Kopfschmerzerkrankung entscheidend. Patienten, die sich das erste Mal bei uns im Kopfschmerzzentrum vorstellen, werden von uns daher ausführlich zum Beginn ihrer Kopfschmerzsymptomatik, zum Schmerzcharakter, zur Lokalisation, Häufigkeit und Intensität der Kopfschmerzen oder zu typischen Begleiterscheinungen befragt. Ggf. schließt sich eine ausführliche schmerzpsychologische Diagnostik an. Diese sehr zeitaufwändige Befragung des Patienten sehen wir als unsere Aufgabe im Kopfschmerzzentrum, für die der Allgemeinmediziner in der Regel keine Ressourcen hat. Für uns wichtige Informationen des Allgemeinmediziners sind zum Beispiel: weitere Vorerkrankungen, vorangegangene Traumata (die möglicherweise mit dem Kopfschmerz assoziiert sind), Begleitmedikation, bisherige medikamentöse und nichtmedikamentöse Behandlungsversuche, das Einnahmeverhalten von Schmerzmitteln, psychische Begleiterkrankungen (z. B. Depression oder Angststörungen), bisherige Labor- und Zusatzdiagnostik und Vorbefunde (z. B. augenärztliche, HNO-ärztliche oder zahnärztliche Diagnostik) sowie stationäre Behandlungen aufgrund der Kopfschmerzen. Angaben zu Vorerkrankungen oder zu bisherigen medikamentösen oder nicht medikamentösen Therapieversuchen, die teilweise ja schon lange zurückliegen, werden im Anamnesegespräch häufig von den Patienten nicht mehr oder nur sehr ungenau erinnert. Daher sind gerade diese Vorinformationen für uns extrem wichtig und hilfreich.

 

Wie genau erfolgt die Übergabe des Patienten vom Allgemeinmediziner?

Dies erfolgt in der Regel in Form eines Arztbriefes, aber auch per Mail oder vorab telefonisch.

 

Wie gehen Sie bei Patienten, die eine Migräneprophylaxe benötigen, konkret vor? 

Nicht medikamentöse Therapieverfahren, wie z. B. eine Lebensstiländerung (Ausdauersport, Entspannung) oder psychologische Therapieverfahren (Stressmanagement, Schmerzbewältigung), sollten immer die Basis einer Migräneprophylaxe darstellen. Eine Indikation für die zusätzliche medikamentöse Migräneprophylaxe ergibt sich vor allem aufgrund der Kopfschmerzhäufigkeit, des Leidensdrucks und der Einschränkung der Lebensqualität. Es handelt sich dabei immer um eine individuelle Entscheidung zwischen Arzt und Patient. Mögliche Kriterien können aber sein, wenn mehr als 3 Attacken pro Monat vorliegen und diese sehr lang anhalten und/oder subjektiv als unerträglich wahrgenommen werden. Auch eine unzureichende Wirksamkeit der Akutmedikamente ist ein Grund für den Beginn einer medikamentösen Prophylaxe. Patienten mit häufigeren Migräneattacken haben ein Risiko für einen Medikamentenübergebrauch. Als Grundregel gilt, dass an nicht mehr als 10 Tagen pro Monat Schmerzmittel eingenommen werden sollten. Nähert sich die Kopfschmerzhäufigkeit diesen 10 Tagen pro Monat an, versuchen wir, unsere Patienten daher rechtzeitig vorher mit wesentlich mehr Vehemenz von der Notwendigkeit einer medikamentösen Migräneprophylaxe zu überzeugen.

Wichtig ist die Aufklärung des Patienten. Dem Patienten sollte eine realistische Erwartung an die Wirksamkeit der oralen Migräneprophylaktika vermittelt werden. Ziel der Therapie ist eine ca. 50%ige Reduktion der Kopfschmerzhäufigkeit. Kopfschmerzfreiheit wäre eine unrealistische Therapieerwartung, Gleiches gilt für den teilweise sehr verzögerten Wirkbeginn bei den oralen Migräneprophylaktika. So müssen die Medikamente in der Regel 2–3 Monate lang eingenommen werden, bevor sich ein Effekt zeigt. Orale Migräneprophylaktika haben teils häufige und gravierende Nebenwirkungen. Zur Überprüfung des Therapieeffekts ist das Führen von Kopfschmerzkalendern oder die Benutzung einer Kopfschmerz-App erforderlich.

 

Gibt es Ihrer Erfahrung nach Compliance-Probleme bei der oralen Migräneprophylaxe?

Unsere Erfahrungen mit oralen Präparaten zur Migräneprophylaxe spiegeln häufig eine mangelhafte Compliance der Patienten wider. Ausschlaggebend dafür ist das nicht unerhebliche Nebenwirkungsprofil der Medikamente. Aber auch eine mangelnde Wirksamkeit bzw. eine teils sehr hohe Latenz bis zum Wirkeintritt sind relevante Faktoren.

Viele Patienten sind darüber hinaus sehr skeptisch, täglich „Medikamente zu schlucken“.  Häufig liegt die Überzeugung vor, dass das „nicht gut für den Körper“ sein kann. Auch spielen bei Kopfschmerpatienten unserer Erfahrung nach somatoforme Kognitionen eine Rolle. So besteht nicht selten eine ausgeprägte Ängstlichkeit vor Nebenwirkungen. Diese führt häufig tatsächlich dazu, dass unerwünschte Wirkungen berichtet werden und die Prophylaxe abgesetzt werden muss.

 

In welchen Fällen ziehen Sie eine Therapie mit Erenumab in Betracht?

Erenumab ist für die Migräneprophylaxe bei erwachsenen Patienten mit mindestens 4 Migränetagen pro Monat zugelassen. Eine Therapie mit einem CGRP- bzw. CGRP-Rezeptor-Antikörper kommt aber zurzeit erst dann in Betracht, wenn die Vorgaben des GBA in Bezug auf die erforderlichen Vortherapien erfüllt sind. Aus unserer Erfahrung stellt diese Therapieoption jedoch gerade für Migränepatienten, die einen langen Leidensweg haben, einen überaus wirksamen und nebenwirkungsarmen Behandlungsansatz dar. Aufgrund des schnellen Wirkeintritts und des niedrigen Nebenwirkungsprofils setzen wir monoklonale Antikörper gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor gerne ein. Auch die Kombination von Antikörper- therapien und nicht-medikamentösen Verfahren, v. a. der Schmerzpsychotherapie, hat sich bewährt.

 

Wie sind Ihre Erfahrungen mit Erenumab bei Patienten, die für eine orale Migräne- prophylaxe nicht infrage kommen?

Vor allem bei Patienten mit Komorbiditäten können Kontraindikationen für den Einsatz mehrerer oder sogar aller bisher verfügbaren oralen Migräneprophylaktika vorliegen.  Für sie stellt die Therapie mit Erenumab eine neue hochwirksame und nebenwirkungsarme Therapieoption dar. Auch für Patienten mit Begleitmedikamenten haben die Antikörper einen entscheidenden Vorteil: Es gibt keine Interaktionen mit anderen Medikamenten.

 

Gibt es Patienten, die Sie zurück an den Allgemeinmediziner überweisen?

Unser Therapiekonzept sieht grundsätzlich vor, dass alle zu uns überwiesenen Patienten an den Überweiser zurücküberwiesen werden. Der überweisende Allgemeinmediziner erhält von uns einen ärztlichen und psychologischen Befundbericht mit genauen Angaben zur Diagnose, zur weiteren Akuttherapie und Prophylaxe der Migräne sowie zu ggf. noch ausstehenden Untersuchungen. Hinzu kommen Empfehlungen zu einer ggf. indizierten psychologischen Mitbehandlung sowie zu einer ggf. indizierten teilstationären oder stationären multimodalen Kopfschmerztherapie.

Die Weiterbehandlung der Patienten findet dann in der Regel beim Allgemeinmediziner allein oder beim Allgemeinmediziner und niedergelassenen Neurologen/Schmerztherapeuten statt. Eine Rücküberweisung des Patienten an unser Kopfschmerzzentrum ist jederzeit möglich.  Bei eventuellen Rückfragen im weiteren Therapieverlauf kann sich der Allgemeinmediziner telefonisch oder per E-Mail bei uns melden. Dieses Angebot wird auch häufig genutzt.  So haben wir in den zurückliegenden Jahren ein engmaschiges Netzwerk aus Kooperationspartnern (niedergelassenen Neurologen, Schmerztherapeuten und Allgemeinmedizinern) in Thüringen und den umliegenden Bundesländern aufbauen können.

Durch den engen Kontakt mit den Allgemeinmedizinern können bestimmte Akuttherapien oder prophylaktische Therapien der Migräne schon im Vorfeld begonnen werden. Wir möchten den Allgemeinmedizinern Mut machen, die Migränetherapie in die eigene Hand zu nehmen.

Es gibt wenig andere Erkrankungen, bei denen man durch die richtige Diagnosestellung und die Initiierung der richtigen Therapie solch gute Therapieeffekte erzielt und so dankbare Patienten hat wie bei der Migräne. Um den Kontakt mit den Allgemeinmedizinern weiter zu vertiefen, führen wir regelmäßig Fortbildungsveranstaltungen zu Migräne und zu anderen Kopfschmerzerkrankungen durch.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Storch.

 


Quelle: „Migräneprophylaxe in der Allgemein- und Facharztpraxis: Interdisziplinäre Zusammenarbeit für langfristigen Behandlungserfolg“. Novartis digitales Pressegespräch am 03.03.2021 (tB).

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